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Text von Klaus Flemming

Ellen Katterbach

Gemeinhin gilt die Fotografie als das Medium, das ein weitgehend authentisches Bild von Welt zu liefern in der Lage ist. Kein Wunder angesichts der Legion von gestochen scharfen, jeden Winkel perfekt ausleuchtenden, akribisch genauen und überaus detail- und nuancenreich dokumentierenden und interpretierenden Lichtbildner-Erzeugnisse, die in Printmedien und Werbekampagnen auf uns kommen - nicht zu reden von dem ganzen Spektrum zwischen privaten und professionellen Bildexegesen mit mehr oder weniger künstlerischem Anspruch.

Da mutet es schon paradox an, wenn eine Künstlerin wie Ellen Katterbach sich fotografierter Bildwelten „aus zweiter Hand“ bedient und ihren Arbeiten Foto-Funde zugrundelegt, die sie in Nachlässen und auf Flohmärkten findet. Das kann motivlich alles sein: Urlaubsfotos und Reiseimpressionen, Familienaufnahmen und Portraits, Stilleben und Landschaften - eben alles, was für irgend jemanden bildwürdig war und als anonymer Bild-Aneignungversuch die Zeitläufe Überdauert hat. Aus dem jeweiligen Lebens- und Erlebenskontext herausgelöst, gehen diese Schnappschüsse ihres Beziehungsrahmens verlustig und lassen deutlich werden, dass sie letztlich doch „nur“ Topoi sind: Seh- und Interpretationsweisen für Vergleichbares, austauschbar und stereotyp. Freilich stehen sie für Hoffnungen und Schicksale, Ideale und Erinnerungen, Emotionen und Gefühlsmomente, Identität und Geschichte(n).

Ellen Katterbach unterzieht diese Funde nun einer langwierigen Prozedur, die wiederum jede Foto-Konvention ad absurdum führt: Sie setzt sie künstlichen Patinierungsprozessen aus, läßt sie vergilben und verblassen, feucht und stockfleckig werden. Sie evoziert Verunklärungen und Verwischungen. Wie im Zeitraffer werden die Bildwelten beeinträchtigt und mit der Methode des gesteuerten Zufalls bearbeitet, wobei das passive Moment des Zulassens von biochemischen und physikalischen Prozessen überwiegt.

Und irgendwann, wenn die Ästhetik des Zufalls ein der Künstlerin genehmes Stadium erreicht hat, kurz bevor der Vorgang ins Unwiderrufliche kippt, fixiert Ellen Katterbach den Befund und fertigt Vergrößerungen, die das endgültige Erscheinungsbild dokumentieren. Heraus kommen Kompositionen, die eine neue, ästhetische Realität evozieren und vielschichtige malerische Aspekte mit den ehemaligen Bildvorwürfen zu einer ungemein assoziationsträchtigen Einheit verschmelzen. Die teilweise aufgegebene Autentizität wird mit Hilfe eines subjektiven Verdichtungsprozesses „aufgeladen“, der die Fremdheit im Vertrauten des Ursprungmotives um die Verrätselung der Hinzufügung bereichert.

Das sich angesichts solcher teilzerstörter, fragiler und unvollständiger Bildwelten Vorstellungen von Vergänglichkeit, Zeitverlauf und Hinfälligkeit einstellen und wir diese unreflektiert als Spiegel unserer eigenen Ausgeliefertheit empfinden, liegt auf der Hand - schließlich ist es ja Menschenbild, das solcherart in Frage gestellt wird, und „Menschenbild“ heißt immer auch Selbstbespiegelung und Betroffensein. Wie zum Trost finden wir aber immer auch Bestätigendes: Vertraute Haltungen und Gesten und Situationen. Und wir wissen uns eingebettet in den Fortgang der Geschichte. Die identifikationsstiftende Arbeit müssen wir freilich beim Schauen selber leisten.

Dieser künstlerische Umgang mit der Patina der Zeit, die sich als geheimnisvoll-malerischer Farbvaleur niederschlägt und mit der sehr wohl noch wahrnehmbaren Komposition der fotografischen Ausgangsbefunde verschwistert, hat freilich bei Ellen Katterbach einen Gegenüber in einem anderen, parallel ständig weiterentwickelten Werkkomplex: den mehrteiligen, sequenzartig aufeinander bezogenen Aufnahmen.

Das wohl bekannteste Motiv, die „Pusteblumen“, zeigt einen Strauß verblühter Löwenzahnblumen mit den kugeligen, immateriell-zarten Samenständen. die von einer Hand nach und nach abgestreift werden, bis nur die geplünderten, quasi entpoetisierten Strünke zurückbleiben. In Momentaufnahmen wird der Handlungsablauf und damit der Zeitverlauf phasenhaft gefaßt: Eingriff und Aneignung, Unberührtheit und Zerstörung, Zauber und Desillusionierung, vorher und nachher. Oft sind es nur paarige Zuordnungen zweier Situationen, die mit dem Vorher und Nachher wie eine Klammer den eigentlichen Wandel (der unsichtbar bleibt) markieren und dem Betrachter die ergänzende Imagination der ganzen Geschichte abnötigen. Manchmal begegnen die Bildelemente als Dreiheit oder Neunerblock - zeilig zu lesen von links nach rechts und oben nach unten.

Die Geschehnisse an sich sind eher unspektakulär: Ein Karren mit Holzscheiten wird abgekippt, verlassene Stühle auf einer Wiese, Ausschnitte einer (kopflos erfaßten) Menschengruppe auf gefliestem Boden, das Gedrängel voluminöser Schafe, perspektivisch verkürzte Ackerfurchen mit einem winzigen Menschen am Horizont. Bewegung als behutsame, pointiert eingebrachte Akzentverlagerung, Verschiebung sanfter Massen, Licht-Schatten-Modulationen in unspektakulärer Beiläufigkeit.

Wie bei den vorgefundenen und weiterverarbeiteten Fotos sucht Ellen Katterbach die Prägnanz im Unscheinbaren und das Verbindliche im beiläufig erscheinenden Alltäglichen. Ihre metaphorische Dichte verdanken sowohl die Überarbeiteten wie die eigenkomponierten Arbeiten ganz wesentlich dem Verzicht auf erzählerische Weitschweifigkeit und anekdotische Detailhuberei. Dennoch sind diese Bilder erzählfreudig, anspielungsreich und ungemein ergiebig. Das liegt zweifellos an den Metaebenen, die komplex genug sind, um Assoziationsketten auszulösen, und zugleich verhalten genug, um der Phantasie Spielraum zu belassen.

Ellen Katterbach kennt die Bildformeln, die in unserem kollektiven Gedächtnis gespeichert sind. Diese Topoi, die sich selbst in der linkischen Amateuraufnahme wiederfinden lassen, verdichtet sie mit Hilfe von Prinzip „Zufall“, indem sie die Metamorphosen einleitet, steuert und anhält, indem sie neue Kontexte schafft und andere Beziehungsrahmen, indem sie vergrößert und kombiniert, weglässt und einfärbt.

Die veränderte, neu gesehene Wirklichkeit der zeitgenössischen Kunst kommt nie ohne das Gewußte und Verinnerlichte aus. Angereichert und aufgeladen um die künstlerische Subjektivität und in eine eigene, unverwechselbare Formensprache übersetzt, entstehen neue, andere Metaphern von Welt. „Ich selbst würde mich als Schmuggler bezeichnen, weil meine Haupttätigkeit darin besteht, Inhalte aus dem Unterbewußten in das Sichtbare zu schmuggeln, um mit dem Sichtbaren wieder in das Unbewußte des Betrachters zurückzukehren“. Diese Künstlerselbsteinschätzung von Ugo Dossi trifft auch auf Ellen Katterbachs Vorgehensweise zu: Ein Medium, das die dienend-dokumentarische Funktion zugunsten einer sinnlich-komplexen Weltsicht aufgegeben hat.

Klaus Flemming

Aus: Kunst c/o Mönchengladbach,
Mönchengladbach 1999